Frühling, die Zeit des Aufbruchs, der Osterspaziergang

22. April 2014

"Oh, wie habe ich ihn verflucht, diesen Osterspaziergang von Goethe!" War es doch Pflicht in der 3./4. Klasse diesen Klassiker auswendig zu lernen. Ich weiß nicht an wem es lag - an der Lehrkraft, an meinem Alter, an meinem Elternhaus? - dass sich damals mir die Schönheit dieses Textes, die visuelle Kraft der beschriebenen Bilder nicht erschloss.

Heute braucht es nicht einmal mehr eines gestrengen Winters, wie in diesem Jahr, um das Verdrängen des Winters durch das Frühjahr, den Kampf in der Natur, das Verdrängen der Kälte durch die Wärme zu erfahren. Ich schließe die Augen und spüre die Wärme des Frühlings, fühle aber auch die Schauer körnigen Eises in Streifen über die Fluren jagen... Und sehe das Stadttor, aus dem ein buntes Gewimmel hervordringt... Ich spüre das Erwachen des Frühlings.

Doch genug der einführenden Worte. Lesen Sie selbst:

Osterspaziergang

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche

Durch des Frühlings holden belebenden Blick;

Im Tale grünet Hoffnungs-Glück;

Der alte Winter, in seiner Schwäche,

Zog sich in rauhe Berge zurück.

Von dorther sendet er, fliehend, nur

Ohnmächtige Schauer körnigen Eises

In Streifen über die grünende Flur;

Aber die Sonne duldet kein Weißes,

Überall regt sich Bildung und Streben,

Alles will sie mit Farben beleben;

Doch an Blumen fehlt's im Revier,

Sie nimmt geputzte Menschen dafür.

Kehr dich um, von diesen Höhen

Nach der Stadt zurück zu sehen.

Aus dem hohlen finstren Tor

Dringt ein buntes Gewimmel hervor.

Jeder sonnt sich heute so gern.

Sie feiern die Auferstehung des Herrn,

Denn sie sind selber auferstanden,

Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,

Aus Handwerks- und Gewerbes-Banden,

Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,

Aus der Straßen quetschender Enge,

Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht

Sind sie alle ans Licht gebracht.

Sieh nur sieh! Wie behend sich die Menge

Durch die Gärten und Felder zerschlägt,

Wie der Fluss; in Breit' und Länge,

So manchen lustigen Nachen bewegt,

Und, bis zum Sinken überladen,

Entfernt sich dieser letzte Kahn.

Selbst von des Bergen fernen Pfaden

Blinken uns farbige Kleider an.

Ich höre schon des Dorfs Getümmel,

Hier ist des Volkes wahrer Himmel,

Zufrieden jauchzet groß und klein:

Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein.

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